Stefan Truthän, Sie befassen sich täglich mit der Zukunft des BOS-Bereichs. Aus Ihrer Sicht: Sind wir für das gewappnet, was auf uns zukommt?

Wenn wir uns die neuen Herausforderungen einmal anschauen, dann ganz sicher nicht. Die Einsatzszenarien für BOS erreichen eine neue Quantität und Qualität. Klimabedingte Hochwasser, Waldbrände und Stürme, Amok und Terrorlagen sind zwar Ausnahmesituationen, aber mittlerweile geschehen sie häufiger und heftiger.

Unser Tätigkeitsspektrum erweitert sich also massiv. Sicherlich können wir das bewältigen, wenn wir uns darauf einstellen. Aber das sind ja nicht die einzigen Veränderungen, die uns herausfordern.

Was kommt noch hinzu?

Auch die aktuellen Megatrends wirken in die BOS hinein: die Städte wachsen, die Gesellschaft altert, Mobilität hat eine neue Dimension. Natürlich gibt es noch Nachwuchs bei der Feuerwehr, aber die jungen Leute bleiben ja nicht. Nicht zuletzt vollzieht sich der Wandel auch innerhalb der Organisation: Wir müssen immer komplexere Entscheidungen immer schneller treffen.

Budgeteinschnitte beschränken Einsatzkräfte und Einsatzmittel. Sicherlich haben wir gelernt, mit Ressourcenmangel umzugehen. Aber wenn unsere Ressourcen weiter schwinden, haben wir ein Problem. Die traditionellen Fähigkeiten der Sicherheitsorganisationen passen nicht mehr zu den externen und internen Herausforderungen, die wir jetzt haben und die wir in den nächsten Jahren haben werden. Das verunsichert uns.

Und jetzt? Was sollen wir tun?

Man muss die BOS von Grund auf neu denken. Und das fängt mit ganz einfachen Fragen an, die zu stellen aber hoch brisant ist. Zum Beispiel: Ist Feuerwehr überhaupt noch die richtige Bezeichnung? Braucht jedes Dorf ein Feuerwehrhaus? Oder: Was passiert eigentlich, wenn es bei Ihnen brennt und aus dem Feuerwehrfahrzeug steigen nur Frauen aus?

Okay, der Reihe nach. Ist Feuerwehr der richtige Begriff für die Feuerwehr?

Die Frage sollte man zumindest stellen, wenn man hinschaut und sieht, dass die Feuerwehr kaum noch Feuer löscht, sondern vor allem rettungsdienstliche Aufgaben übernimmt und technische Hilfe leistet.

Und braucht jedes Dorf ein Feuerwehrhaus?

Es braucht ja nicht nur das Haus, sondern fähige Feuerwehrleute, die dann auch vor Ort sind, wenn sie gebraucht werden. Wie sollen die aber Feuer löschen, wenn sie zwar zur Freiwilligen Feuerwehr gehören, aber aus beruflichen Gründen Stunden entfernt sind. Wir haben heute ein modernes Nomadentum und umfassende Mobilität. Menschen bleiben nicht mehr an einem einzigen Ort. Sie ziehen umher, sowohl beruflich als auch privat.

Warum kann ich nicht gleichzeitig in zwei Feuerwehren aktiv sein? Tagsüber in Hannover und nachts an meinem Wohnort in Braunschweig?

Wie sieht es denn mit der Feuerwehr in einer Großstadt aus?

Die Feuerwehr muss 24 Stunden am Tag verfügbar sein – keine Frage. Aber braucht es dafür eine Wache, die rund um die Uhr besetzt ist? Braucht es feste Arbeitszeiten? Feste Arbeitsorte? Reicht es nicht, wenn Sicherheitsressourcen in der Stadt verfügbar sind? Ein Feuerwehrmann aus Berlin, der beruflich gerade in München ist, kann dort nicht an einem Einsatz teilnehmen, obwohl er vor Ort wäre und Zeit hätte. Das ist doch Verschwendung von Ressourcen. Verfügbare Ressourcen sollten genutzt werden.

Grundlage böten doch die Feuerwehrdienstvorschriften. Aber sind das überhaupt noch Standards? Das öffnet die Möglichkeit zu ganz neuen Arbeitszeitmodellen. Stichwort New Work. Wir können und müssen Ressourcen neu überdenken. Heute gibt es jedenfalls zu wenig Debatte über Sinn und Unsinn der Aufgabenverteilung in den BOS. Darüber, was eigentlich unsere Aufgabe ist, und darüber, was einfach nicht mehr zeitgemäß ist.

Was ist denn nicht mehr zeitgemäß?

Zum Beispiel der lineare Karriereweg in der Feuerwehr. Warum muss sich ein Feuerwehrmensch hocharbeiten durch die Führungshierarchien? Warum müssen künftige Wehrleiter früher selbst schon Feuer gelöscht haben? Ist es nicht viel wichtiger, dass sie gute Motivatoren und erfolgreiche Manager sind? Das sind Fragen mit Sprengkraft. Aber diese Debatten sollten wir führen. Und das können wir. Schließlich sind Feuerwehrleute doch mutig. Ein anderes Thema ist der Mangel an Standards.

Sie sprechen die föderalen Strukturen und die kommunalen Zuständigkeiten an?

Bei den Schläuchen gibt es die Storz-Kupplung. Jeder weiß, wie sie funktioniert und wie es zusammenspielt – ein einheitlicher Standard. Ansonsten haben sich Technik und Taktik jedoch auseinanderentwickelt. Vielleicht brauchen wir ja eine Bundesfeuerwehr, die Feuerwehren inspiziert, die die Vernetzung verbessert und harmonisiert. Auch im Hinblick auf digitale Services. Was wir zukünftig brauchen ist eine Software für eine einheitliche Verfahrensbearbeitung, quasi eine digitale Storz-Kupplung.

Nochmal zurück: Was passiert denn, wenn aus dem Feuerwehrauto nur Frauen steigen?

Na, wir alle würden doch erstmal komisch gucken, oder? Und wir würden uns schnell einig sein, dass diese Frauen den Job unter den heutigen Voraussetzungen alleine nicht machen könnten. Und nun stellen wir uns aber mal vor, aus dem Auto steigen nur alte Männer. Ist der Eindruck nicht ähnlich? In beiden Fällen müssten es eigentlich komplett andere Autos sein.

Aber warum ist das so? Warum muss der Feuerwehrmensch ein Mann zwischen 18 und 35 sein, gut trainiert, über 1,85 Meter groß und ständig einsatzbereit? Sicher, die brauchen wir auch. Aber das ist ein unheimlich kleiner Markt. Unsere Realität hingegen sieht so aus: Wir haben einen demographischen Wandel. Wir haben ein Gender-Gap.

Und welche Schlüsse sollten wir daraus ziehen?

Dass wir über Diversity sprechen müssen. Und über die individuellen Befähigungen und Talente jedes Einzelnen. Eine höhere Frauenquote wäre eine große Bereicherung.

Frauen bringen Fähigkeiten mit, die der klassische Feuerwehrmann nicht unbedingt hat. Und warum kann ein 70-Jähriger, dessen Erfahrung für uns unglaublich wertvoll ist, heute nicht bei der Feuerwehr arbeiten? Wir könnten ihn auch technisch dazu befähigen, beispielsweise mit einem Exoskelett. Er steuert und dirigiert die Bewegungen, die Technik gibt ihm die Kraft. Mit der Technologie ändert sich dann auch der Blick auf Teams und Taktik.

Damit sind wir beim Leitthema der INTERSCHUTZ. Was bereiten Sie dazu in Halle 16 vor?

In Halle 16 wollen wir stellvertretend für die gesamte INTERSCHUTZ die Bühne der Transformation und Digitalisierung bereiten. Wir wollen Debatten anstoßen, über künftige Herausforderungen und Chancen sprechen. Das funktioniert nur im Dialog. Wir werden unter anderem eine Sonderfläche präsentieren, die sich mit den Herausforderungen und Megatrends der VUCA-Welt beschäftigt. VUCA steht für Volatile, Uncertain, Complex, Ambiguous. Heißt etwa: Alles ist heute im Wandel, alles ändert sich schnell, alles ist komplex und mehrdeutig.

Die Herausforderung für uns als Individuen, als Gesellschaft und auch für BOS liegt darin, nicht mehr eine Lösung zu suchen, die dann 50 Jahre statisch gilt, sondern mit der VUCA-Welt robust und resilient umzugehen. Diese Flexibilität beginnt im Kopf. Das muss man üben. Und das beginnt damit, dass man eine positive Grundstimmung für das Phänomen Permanenter Wandel schafft.

Das klingt jetzt erstmal nach einer gedanklichen Dehnübung. Aber wie sieht diese Flexibilität in der Praxis aus?

Fangen wir doch mal so an: Warum muss ein Fahrzeug Löschfahrzeug heißen, obwohl es ganz viele andere Dinge kann? Das klingt nach einem Nebenkriegsschauplatz, der Begriff ist einfach nicht mehr treffend. Sprache aber bestimmt unser Denken und an der Bezeichnung hängt ja ganz viel. Zum Beispiel die finanzielle Unterstützung.

Denn die Bewilligung einer Investition gibt es dann vielleicht nur für ein Löschfahrzeug, obwohl an anderen Stellen Geld viel sinnvoller eingesetzt werden könnte. Unsere heutigen Strukturen passen einfach nicht mehr. Deshalb müssen wir geübte und verlässliche Strukturen zerstören. Im Bereich der Sicherheitsorganisationen ist das aber besonders schwierig. Ihr Dilemma: Sie sind die letzte Meile, sie dürfen keine Unsicherheit vermitteln.

Aber Strukturen brauchen wir in Zukunft doch auch?

Ja. Aber die Organisationsstrukturen müssen robust genug sein, um flexibel zu agieren. Die Feuerwehr ist heute längst nicht mehr in der Lage, 100 Prozent der Aufgaben im Blick zu haben, die sie eigentlich haben müsste, um eine Stadt sicher zu machen.

Sie reagiert nur noch. Wenn wir hier Antworten wollen, müssen wir hinschauen, was in den USA und in China gedacht und getan wird. Denn die Herausforderungen sind ja überall gleich: Wachsende Städte, Budgetknappheit, Klimawandel und vor allem: Digitalisierung.

Wie können wir Digitalisierung nutzen, um uns zukunftsfähig aufzustellen?

Indem wir die Welt neu denken. Digitalisierung ist eben nicht nur da, um die alte Welt effizienter und ein bisschen bequemer zu machen. Konkret gesprochen: Ich will mit Digitalisierung vorab Unfälle verhindern und nicht nur effektiver retten.

Beispiel vorbeugender Brandschutz: In Zukunft könnte die Feuerwehr bei Ihnen anrufen und sagen, dass Ihre Gastherme in vier Tagen ein Leck haben wird. Dann wird die Anlage runtergefahren und repariert. Damit so etwas möglich wird, muss die Feuerwehr mit der digitalen Stadt kompatibel werden. Es braucht den Datenaustausch und keine digitalen Silos. Wir brauchen Offenheit und Vertrauen, kein Konkurrenzdenken. Erst dann können wir von den vorhandenen Daten profitieren.

Welche Rolle kann hier die INTERSCHUTZ spielen?

Die INTERSCHUTZ ist eine riesige Chance, weil sie alle Akteure der Sicherheit an einem Ort zusammenbringt. Sie ist ein Spiegelbild und muss deshalb die Plattform sein, um uns alle zum Nachdenken anzuregen. Um die Welt neu zu denken. Für uns in Deutschland heißt das vor allem, von anderen zu lernen – sozusagen als Rucksacktouristen auf den Schultern derer, die die Welt wirklich verändern. Wir sind keine Experten für Digitalisierung und Plattformen.

Unsere Fähigkeit liegt in der Ingenieurskunst, in der Effizienz, im Zusammenführen. Die Frage, die wir uns deshalb stellen müssen, ist: Wie kann es gelingen, Knowhow nach Deutschland zu bringen? Immer mit dem Ziel, unser Land und unsere Städte sicher zu halten.