Morgens um kurz vor sieben in der Seenotrettungsstation in List auf Sylt: Es duftet nach Kaffee und frischen Brötchen. Draußen im Hafen kreischen die Möwen, ein paar einsame Wanderer und Radfahrer genießen schon die frische Luft. Drinnen im Gebäude sitzen drei Männer zum gemeinsamen Frühstück zusammen. Sie sind die Besatzung des Seenotrettungskreuzers "Pidder Lüng", der fest vertäut an der Mole vor dem Gebäude liegt. Der Tag beginnt in der nördlichsten Station der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS), einem von insgesamt 55 Stützpunkten an Nord- und Ostsee.

Der Tagesablauf ist gut strukturiert: Gleich nach dem Frühstück trifft sich die Schiffsbesatzung zur Besprechung. "Dabei unterhalten wir uns darüber, was zu erledigen ist – Arbeiten im Gebäude ebenso wie am Schiff", berichtet der 2. Vormann Christian Koprek. "Natürlich hören wir die Nachrichten und informieren uns vor allem über die Wetterlage. Dann wird "Klar Schiff" gemacht – die "Pidder Lüng" wird ebenso wie das Stationsgebäude, in dem die Besatzung übernachtet, gereinigt.

14 Tage lang ist eine Besatzung jeweils auf Wache, Tag und Nacht und bei jedem Wind und Wetter. Der Älteste ist schon seit 25 Jahren in List dabei. Nach zwei Wochen kommt die Ablösung. Jede Woche wechseln ein oder zwei Kollegen, damit jeder mal mit jedem zusammenarbeitet und immer jemand schon länger an Bord ist als andere Kollegen. Insgesamt zählt das Team 13 Seenotretter, sieben Hauptamtliche und sechs Freiwillige. Der Zusammenhalt untereinander ist bestens – das regelmäßige Leben in der Wohngemeinschaft, vor allem aber die Aufgaben schweißen zusammen: Schiffbrüchige aus Seenot retten, Menschen aus Gefahren befreien, Verletzte und Kranke versorgen. Die regelmäßige Trennung von der Familie ist ebenso wie die Arbeit selbst alles andere als ein Freizeitvergnügen.

Einsatz bei Leuchttonne 15

An diesem sonnigen Sommertag kommt die Bestätigung am Abend. Gerade noch sind der Vormann und seine beiden Kollegen damit beschäftigt, auf dem Seenotrettungskreuzer neue Leinen zu befestigen, als sie über Funk eine Alarmierung der Seenotleitung Bremen der DGzRS erreicht: "Zwischen der Ostspitze des ‚Ellenbogens‘ und Leuchttonne 15 treibt ein Kitesurfer im Wasser." Der Ellenbogen ist die nördlichste Spitze von Sylt und damit der nördlichste Punkt Deutschlands. Sofort starten die Seenotretter die mehr als 1.600 PS starke Maschine der "Pidder Lüng". Vormann Christian Koprek nimmt Kurs auf die Unglücksstelle. Gleichzeitig bereiten seine beiden Kollegen alles Nötige vor. "Wir gehen zunächst vorsichtshalber immer vom Schlimmsten aus", erklärt der Vormann. "Deshalb zieht einer sofort den Kälteschutzanzug an, falls er selbst ins Wasser muss. Außerdem werden unter anderem Wärmewesten und auch unser Defibrillationsgerät bereitgelegt." Zwischendurch fragt die Feuerwehr an, ob später weitere Hilfe an Land benötigt wird. "Mitunter arbeiten wir auch sehr eng mit unseren dänischen Kollegen von der Nachbarinsel Röm zusammen", so Koprek weiter. "Einer hilft dem anderen, wenn es drauf ankommt. Wir sind ein sehr gut eingespieltes Team." Auf See eine Selbstverständlichkeit.

Der verunglückte Kitesurfer unweit der Nordspitze ist schnell gefunden. Wie sich herausstellt, war er bei westsüdwestlichem Wind und Stärke vier gestartet. Auf dem Wasser hatte er plötzlich sein Brett verloren und war ins Wasser gestürzt. Aus eigener Kraft war es ihm nicht gelungen, wieder aufzusteigen und den Kiteschirm zu starten. Auch seine Schwimmversuche in Richtung Ufer scheiterten. Der Strom der einsetzenden Ebbe und der Wind trieben ihn immer weiter auf die offene See. "Der Ebbstrom kann hier fast zehn Stundenkilometer schnell werden und macht es fast unmöglich, ohne Hilfe wieder an Land zu kommen", weiß der erfahrene Vormann der "Pidder Lüng".

Schon sieben Minuten nach der Alarmierung sind die Seenotretter vor Ort und nehmen den erleichterten Mann samt Ausrüstung an Bord. "Er war ansprechbar und konnte sich auch an alles erinnern. Routinemäßig haben wir noch seine Körpertemperatur gemessen – sie lag bei 37 Grad. Es bestand keine weitere Gefahr", berichtet Koprek. Als die Mannschaft den überglücklichen Mann wenig später unverletzt am Strand absetzt, bedankt er sich herzlich auch bei den Spaziergängern, die seine Notlage beobachtet und gemeldet hatten.

Krabben als Dank

Glimpflich ging einige Wochen vorher auch ein anderer Einsatz aus. So endete für zwei dänische Krabbenfischer die nächtliche Fangreise auf dem Haken des Seenotrettungskreuzers. Ihr manövrierunfähiger Kutter drohte westlich von Sylt auf eine Untiefe zu treiben und dort in die gefährliche Brandungszone zu geraten. "Pidder Lüng" schleppte die "Fru Hellesøe" in den dänischen Hafen Havneby. Dort bekamen die Seenotretter ein herzliches Danke der Fischer und eine ordentliche Portion Krabben.

Weit dramatischer verlief ein Einsatz der Sylter Retter am Offshore-Windpark "Butendiek" ab. "Zum Glück konnten wir vor der Fahrt noch einen Arzt von der Insel mit an Bord nehmen", erinnert sich Christian Koprek. "Zwar war gemeldet worden, dass ein Arbeiter nach einem Sturz eine Knieverletzung erlitten hat. Aber wir wollten auch in diesem Fall ganz auf Nummer sicher gehen. Denn wir waren auf uns allein gestellt und hätten wegen der Wetterverhältnisse keinen Hubschrauber mit Notarzt zum Einsatzort erbitten können." Die Sorge erweist sich als berechtigt. Als die Seenotretter an der Unglücksstelle eintreffen, stellt sich heraus, dass der Mann von einem dicken Seil getroffen wurde und – äußerlich nicht sichtbar – schwerste innere Blutungen erlitten hat. Mit hoher Geschwindigkeit bringen ihn die Seenotretter nach List, wo er wenig später von einem Hubschrauber übernommen und in eine Klinik am Festland gebracht wird. Dort retten ihm die Ärzte in einer Notoperation das Leben.

Funkgerät immer dabei

Nach jedem Einsatz muss die "Pidder Lüng"-Besatzung in einem Bericht die Einzelheiten dokumentieren und an die Zentrale der DGzRS nach Bremen melden. Wenn die Männer nicht auf See sind, ist gewöhnlich ab 17:30 Uhr Bereitschaft angesagt. "Dann kann jeder, ganz nach Vorliebe, Sport treiben oder sich anderweitig beschäftigen. Gegen 18:45 Uhr ist gemeinsames Abendessen angesagt", erzählt der Vormann. "Einer aus dem Team ist immer für die Verpflegung zuständig." Den Abend kann sich jeder selbst gestalten – zum Beispiel mit Fernsehen im Stationsgebäude oder auch einem Bummel in den kleinen Ort. Natürlich ist das Funkgerät immer dabei, und die Seenotretter entfernen sich nie weit von ihrer Station. Denn, wie im Fall des Krabbenkutters, auch nachts gibt es gelegentlich Alarm.

Die Arbeit in der 1882 gegründeten Station in List auf Sylt läuft ähnlich wie an den anderen Orten auch. "Etwas Besonderes ist für uns immer die grenzübergreifende Zusammenarbeit mit den Dänen. Das läuft absolut perfekt", lobt Christian Koprek. "Denn eines steht für uns alle immer im Vordergrund: Helfen, wenn Menschen in Not sind."

Vom Ruderboot zum PS-starken Kreuzer

Vor 138 Jahren mussten die Retter noch mit einem Ruderrettungsboot namens "Conrad" gegen Wind und Wellen ankämpfen. Die heutige "Pidder Lüng" zählt zu den 20-Meter-Seenotrettungskreuzern mit einer 1.220 kW/1.660 PS starken Maschine. Der Name "Pidder Lüng" erinnert übrigens an die gleichnamige Ballade von Detlev von Liliencron (1844-1909) über den Sylter Fischer und Freiheitskämpfer Pidder Lüng. Das Arbeitsboot "Michel" trägt den Namen des Hamburger Wahrzeichens, der weithin bekannten Hauptkirche St. Michaelis, deren 132 Meter hoher Turm die Silhouette der Hansestadt prägt. Denn ein Großteil der Baukosten des 2013 in Dienst gestellten Spezialschiffes wurde durch einen Spendenwettbewerb zwischen Sylt und Hamburg gedeckt.

Insgesamt wurden Deutschlands Seenotretter im vergangenen Jahr zu 2.140 Einsätzen gerufen. Dabei haben sie insgesamt 3.396 Menschen Hilfe geleistet. Allein 351 von ihnen wurden aus Seenot gerettet oder Gefahr befreit. Mit ihren 60 Seenotrettungskreuzern und -booten gilt die bereits 1865, vor 155 Jahren gegründete DGzRS als einer der modernsten Seenotrettungsdienste der Welt. Finanziert wird ihre gesamte Arbeit ausschließlich durch Spenden und freiwillige Beiträge, ohne jegliche staatliche-öffentliche Mittel in Anspruch zu nehmen.