Haben Sie einen persönlichen Bezug zum Thema Rettungsdienst, Feuerwehr oder Bevölkerungs- und Katastrophenschutz?

Seit meiner Diplomarbeit befasse ich mich damit, wie gesundheitsbezogene Prozesse durch mobile Sensorik und vernetzte Informationssysteme unterstützt werden können.

In meiner Forschungsarbeit kam ich zum ersten Mal mit Anwendungen in Rettungsdienst und Katastrophenschutz in Berührung. Dort wird der Nutzen von Technologie sofort greifbar, sie muss aber auch den teilweise extremen Einsatzbedingungen genügen – das hat mich von Anfang an fasziniert und motiviert.

Wie kam es, dass sich Ihr Unternehmen in diesem Bereich engagiert?

VOMATEC wurde vor mehr als 20 Jahren gegründet mit dem Ziel, spezialisierte, intelligente Softwarelösungen für die zivile Sicherheit zu schaffen. Zu dieser Zeit gab es eine große Lücke in diesem Bereich. Unser Ziel ist es, die Sicherheit von Bevölkerung und Einsatzkräften zu erhöhen, deren Arbeitsprozesse zu beschleunigen und so einen Beitrag dazu zu leisten, Leben und Werte zu schützen. Mit unserem System RescueWave sind wir weltweit Vorreiter bei der Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen bei komplexen Einsatzlagen: Wir wollen erreichen, dass Führungs- und Einsatzkräfte bei so genannten MANV- oder Großschadenslagen ohne Zeitverlust die Lage überblicken, gezielt Behandlungsbedarfe erkennen und geeignete Maßnahmen zur effizienten Bearbeitung der Situation treffen können.

Welche Rolle spielen digitale Technologien heute im Einsatzalltag bei Großschadenslagen?

Im Bereich der Notfallmedizin kommen bei Großschadenslagen bereits verschiedenste digitale Strategien zum Einsatz, von digitalen Einsatztruppen (Virtual Operations Support Teams) bis zur digitalen Einsatzunterstützung, etwa durch Lagekartenführung, Videoübertragung, Drohnen oder Geoinformationssysteme. Rettungsdienst, Katastrophenschutz und Feuerwehr stellen Verfahren und Abläufe gezielt auf digitale Prozesse um, beispielsweise im Bereich der Alarmierung. Es kommen aber auch analoge Hilfsmittel, wie Patientenanhängetaschen, Handnotizen, BOS­Funk und Lagekarten zum Einsatz. Damit stoßen die Führungskräfte schnell an ihre Grenzen. Mit technischer Unterstützung können die Herausforderungen bei Großschadenslagen in einer wesentlich kürzeren Zeit und mit einem sicheren Informationsstatus bewältigt werden.

Welches Potenzial sehen Sie für die Digitalisierung in diesem Bereich? Und über welchen Zeithorizont sprechen wir da?

Digitalisierung im Bereich der Bearbeitung von Großschadenslagen kann für mehr Effektivität, mehr Effizienz und zuverlässigere Entscheidungen in der Lagekommunikation und Einsatzbewältigung sorgen. Die technischen Möglichkeiten zur Erhebung, Verarbeitung und Verbreitung von Informationen nehmen stetig zu. Allerdings muss auch die Umsetzung in praktikable Einsatzabläufe und -technologien gegeben sein. Nur dann entsteht durch die Digitalisierung von bestehenden Prozessen im Aufgabenspektrum von Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz auch ein Mehrwert.

Was können digitale Technologien im Einsatzgeschehen verbessern?

Die MANV-Lösung RescueWave ist ein Beispiel dafür, wie mit digitaler Technologie komplexe Aufgaben und Abläufe überschaubar und beherrschbar werden. Erstversorgung und Transportorganisation werden beschleunigt und laufen zielgerichteter ab. Vorhandene Ressourcen können effizienter eingesetzt werden. Somit können Kräfte besser frei gemacht werden für dringende – teilweise originäre – Aufgaben. Eine Digitalisierung der Prozesse unterstützt die Einsatz­ und Führungskräfte im MANV also erheblich und sorgt letztendlich dafür, dass die Prähospitalzeit verkürzt und Menschenleben gerettet werden können. Ein Notarzt, der RescueWave seit einigen Jahren nutzt, hat es treffend formuliert: „Es wurde höchste Zeit, dass der digitale Fortschritt auch in den sensiblen Bereich des medizinischen Katastrophenschutzes Einzug hält.“

Welche Aufgaben übernimmt eine solche digitale Lösung konkret?

Digitale Systeme wie RescueWave können Einsatz- und Führungskräfte dabei unterstützen, die wichtigsten Fragen von Führungskräften in einem Großeinsatz so schnell wie möglich zu beantworten: Wie viele Betroffene gibt es und wo befinden sie sich? Welche Sichtungskategorien werden den Patienten zugeteilt und wer muss priorisiert versorgt werden? Wie können Lagebesprechungen zielgerichtet und priorisiert durchgeführt, Informationen gezielt gesammelt und gebündelt werden? Mit den üblichen Hilfsmitteln wie Patientenanhängekarten, Handnotizen, BOS-Funk und Lagekarten kommen Einsatz- und Führungskräfte an ihre Grenzen und die der analogen Systeme: Weder können sie die Lage überblicken noch verfügen sie schnell genug über notwendige Informationen, um wichtige Entscheidungen treffen zu können.

Mit Technologien wie RescueWave können Feuerwehr und Katastrophenschutz, Rettungsdienst und andere Hilfsorganisationen die Herausforderungen in MANV-Situationen in einer wesentlich kürzeren Zeit und einem sicheren Informationsstatus bewältigen – das System unterstützt und trägt die Einsatzführung. So greifen MANV-Management vor Ort, Vorbereitung und Abarbeitungen der Kliniken passgenau ineinander.

An welchen Stellen bleibt es auch künftig analog?

Digitale Systeme können Effizienz und Effektivität steigern, haben aber auch ihre Grenzen. Zum Beispiel dort, wo eine hohe Einsatzdynamik auftritt und Experten- und Erfahrungswissen benötigt werden. Bei Großschadenslagen bleibt die Lagebeurteilung beispielsweise ein Fall für Führungskräfte. Digitale Systeme werden in solchen Situationen in naher Zukunft nicht selbst Entscheidungen treffen, sondern insbesondere datengetriebene Entscheidungen unterstützen. Auch bei lebensrettenden Entscheidungen sind weiterhin die Experten gefragt: Sichtung, Auswahl der Erstmaßnahmen vor Ort, Zuteilung auf die passende Klinik – also vor allem dann, wenn Einschätzungen auf Basis unsicheren oder gar widersprüchlichen Daten gefragt sind. In Richtung Krankenhaus ist die Digitalisierung noch nicht überall durchgängig. Wir sind aktuell mit verschiedenen Akteuren im Gespräch, um Schnittstellen zu weiteren Systemen zu schaffen: zur automatisierten Abfrage von Behandlungskapazitäten, Datenweitergabe an andere Systeme, Kommunikation mit Leitstellen und Stäben. Ziel ist es, Medienbrüche in Zukunft möglichst gering zu halten. Bis dahin können beispielsweise gedruckte Berichte als „analoges Übertragungsmedium“ genutzt werden.

Wie funktioniert der Einsatz von RescueWave an der Einsatzstelle?

RescueWave ersetzt die üblichen Hilfsmittel durch ein speziell für Großschadenslagen entwickeltes Prozessunterstützungssystem. Statt Patientenanhängekarten verteilen die Einsatzkräfte elektronische Sichtungsgeräte – die Rescue.Nodes – an alle Betroffenen. Sobald die Geräte angeschaltet werden, sind die Betroffenen automatisch registriert, ihr Standort wird per GPS-Lokalisierung drahtlos an die Einsatzführungssoftware übertragen. Nachdem die Geräte verteilt sind, sehen alle Verantwortlichen im Führungssystem, wie viele Verletzte und Betroffene vor Ort sind, wo sich die betroffenen Menschen aktuell befinden – auch wenn diese ihren Standort ändern.

Am Sichtungsgerät stellt zum Beispiel der Leitende Notarzt die Sichtungskategorie ein. Die Ergebnisse werden augenblicklich an die Rescue.App übermittelt, die Führungskräfte überblicken die Lage und Änderungen der Lage sofort. Verletzte können mit nur wenigen Klicks auf Rettungsmittel und Kliniken zugeteilt werden. In der App stehen Statistiken und Übersichten bereit, die sich laufend automatisch aktualisieren. Zu jedem Zeitpunkt ist die aktuelle Zahl der Betroffenen klar, wie diese sich auf die Sichtungskategorien aufteilen, ob und wohin bereits transportiert wurde.

Das hat auch Vorteile für die Kommunikation während eines Einsatzgeschehens sowie für die Nachbereitung, oder?

Ja, es können Kennzahlen ermittelt werden, die bisher während eines MANV gar nicht ermittelt werden können, zum Beispiel: Wann waren alle Patienten erfasst, wie lange dauerte das? Wann wurde der erste Patient gesichtet, wann der letzte abtransportiert? Wann war die Sichtung abgeschlossen? Wann waren alle rot gesichteten Patienten abtransportiert? Wann wurden Maßnahmen zur Erstversorgung getroffen?

Den Verantwortungsträgern stehen also valide Daten, Zahlen und Fakten von Beginn der Lage an zur Verfügung – für Besprechungen im Stab, für Pressestatements, um Angehörige, Politiker und Öffentlichkeit schnell informieren zu können. Es erhöht sich somit nicht nur die Qualität der Führung und der Versorgung, sondern auch die positive Wahrnehmung der Gefahrenabwehr in der Bevölkerung.

Welche Rückmeldung bekommen Sie von den Anwendern?

Erfahrene Notärzte betonen, wie wichtig der Faktor Zeit in solch kritischen Situationen ist. Er kann in der Notfallmedizin über Leben und Tod oder bleibende Schäden entscheiden. Wenn Daten von Hand, also per Funk oder Telefon, übermittelt und dann manuell zu einem Gesamtbild der Lage zusammengefügt werden, dauert das sehr lange. Ein Notarzt sprach davon, wie RescueWave die Abläufe nun revolutioniert und ihn sowie die Einsatzkräfte enorm unterstützt. Das ermöglicht es ihnen, ihren schwierigen Kernaufgaben im Einsatz nachzukommen: die Patienten differenziert und ressourcenschonend mittels der vorhandenen Rettungsmittel auf die geeigneten Kliniken zu verteilen.

Ein Landrat sagte uns, dass durch RescueWave der Katastrophenschutz im Landkreis neu aufgestellt wird. Besonders bei Notfällen mit einer großen Anzahl von Verletzten könne nun schneller und koordinierter agiert und Leben gerettet werden. Das Digitalsystem ist für ihn ein wichtiger Baustein, mit dem er innovativ modernste Technik in den Rettungsdienst bringt. Eine Berufsfeuerwehr will im Rahmen einer Verwaltung 4.0 die bestehenden Prozesse im Aufgabenspektrum der Feuerwehr und des Rettungsdiensts digitalisieren.

Wie haben Sie RescueWave entwickelt? Welche Partner aus der Praxis hatten Sie? Und wie läuft die Weiterentwicklung?

Als Softwareunternehmen für die zivile Sicherheit sind wir schon früh in die Sicherheitsforschung eingestiegen, haben in verschiedenen Kontexten Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft erforscht, auch im Auftrag des Landes Rheinland-Pfalz, der Bundesrepublik und der EU. Bei Übungen haben wir gesehen und festgestellt, dass bei MANV noch viel auf Papier basiert – und keine Alternativlösung existiert. So kamen wir auf die Idee, eine eigene Lösung zu erforschen. Im Lauf des Projekts haben wir das Marktpotenzial erkannt und die Systementwicklung begonnen. Informatiker, Ingenieure, Anwender, Wissenschaftler sowie Experten des Rettungs- und Katastrophenschutzes waren an der Entwicklung des Systems beteiligt.

Für die Umsetzung sind wir eine starke Partnerschaft eingegangen, um das Systemkonzept zu realisieren. Gemeinsam mit antwortING Beratende Ingenieure PartGmbB und der ITK Engineering GmbH haben wir dann RescueWave zur Marktreife gebracht. Feuerwehr und Rettungsdienste, Polizei und Katastrophenschutz haben die Lösung in verschiedenen Szenarien mehrfach erprobt und evaluiert. Durch den partizipativen Ansatz haben wir eine hohe Tauglichkeit für die Praxis erzielt und erreicht, dass sie sich mühelos in bestehende, erprobte Abläufe integrieren lässt.

Was sind für Sie die nächsten Ziele in technologischer Hinsicht?

Wir wollen erreichen, dass die Digitalisierung in Einsatzfällen durchgängig ist, um die papierbasierte Abwicklung zu ersetzen und Medienbrüche zu vermeiden. Hilfreich sind hier etwa Anbindungen an andere Systeme, zum Status von Ressourcen, aktuelle Behandlungskapazitäten und die Vernetzung mit Leitstellen und Stäben. Für industrielle Anwender ist auch die Vernetzung mit unserem eigenen Sicherheitsmanagementsystem ARIGON PLUSmöglich, um Einsätze durchgängig zwischen Leitstelle und der Lage vor Ort zu bearbeiten. Im Bereich der Vernetzung haben wir auch noch weitere spannende Themen auf unserer Roadmap, über die möchten wir allerdings heute noch nichts verraten.

Was sind Ihre wichtigsten Absatzmärkte aktuell? Und wo sehen Sie künftiges Potenzial?

Innovative Landkreise und Städte, Rettungsdienste und Feuerwehren, die beim Thema Digitalisierung konkrete Schritte gehen möchten, gehören zu unseren wichtigsten Zielgruppen. Unter dem Schlagwort Industrie 4.0 ist RescueWave auch für Industrieunternehmen mit einem hohen Gefährdungspotential interessant: große Werke aus der Chemie-, Pharma- oder Stahlproduktion zum Beispiel. Ausgehend von Deutschland wollen wir zunächst europaweit Märkte erschließen. Da die Sichtung mit Papierkarten aber international so gehandhabt wird, sehen wir noch deutlich größeres Potenzial.

Digitale Systeme sind erklärungsbedürftig. Was bringen Sie auf die INTERSCHUTZ mit, um Ihre Lösung möglichst anschaulich zu präsentieren?

In unserem Fall ist das einfach! Das elektronische Sichtungsgerät Rescue.Node ist ja zum Anfassen gemacht und einfach zu bedienen. Es stellt eine neue Gerätekategorie im Katastrophenschutz dar und unsere Besucher sollen es am Stand ausprobieren. RescueWave ist so gestaltet, dass es den gesamten Prozess eines MANV unterstützt. Wir werden das komplette System mit Hardware auf unserem Stand demonstrieren. Auf verschiedenen Bildschirmen und Tablets lässt sich dann sofort und live nachvollziehen, wie sich die Lage dynamisch verändert, wenn sich etwa der Standort eines Betroffenen oder die Sichtungskategorie ändert. Dann können die Besucher in die Rolle von LNA und OrgL schlüpfen und die Einsatzführung übernehmen